Abschiedsvorlesung Peter Hübners an der Uni Stuttgart, 19.07.2007
„Hand und Auge“ heißt das Thema meiner heutigen Abschiedsvorlesung, die ich zwei Lehrern, Kollegen und Freunden widmen möchte, die mein Wirken als Architekt und Lehrer wesentlich beeinflusst haben, nämlich Frei Otto und Peter Sulzer.
Also: „Hand und Auge“
Dieser etwas programmatische Titel mag Sie verwundern, lassen Sie uns versuchen, das Thema unter verschiedenen Facetten zu beleuchten:
1. Was bedeutet „Hand und Auge“ für den Menschen, für seine Herkunft und sein jetziges Sein unter anthropologischen Gesichtspunkten.
2. Was könnte „Hand und Auge“ für das Behausen in Gebäuden und Städten an Hinweisen über falsch und richtig liefern.
3. Wie funktionieren Lernen und Lehren bei Menschen, denen als Besonderheit Hände und Augen gegeben sind.
Zu eins:
Wir Menschen unterscheiden uns von den Tieren, weil wir alle gleich sind und fühlen uns als Menschen, weil wir alle unterschiedlich sind.
Ein scheinbarer Widerspruch, der sich schnell auflöst: wir unterscheiden uns tatsächlich von den Tieren, weil wir alle gleich sind, nämlich durch etwas Einzigartiges, was kein anderes Tier besitzt: nämlich durch unsere Hände.
Und unterschiedlich sind wir durch die einzigartige Individualität jeder Person, die sie auch in ihrer gebauten Umwelt abgebildet wissen möchte, wir werden später darauf zurückkommen.
Die Hand mit ihrer unvergleichbaren Geschicklichkeit, die durch die Opposition von Daumen und Zeigefinger ermöglicht wird, einer höchst komplexen Bewegungs-, Griff-, Tast- und Schmeichelfähigkeit, die noch heute in ihren sieben Freiheitsgraden von keinem Roboter simuliert werden kann, ermöglicht uns so unterschiedliche Dinge zu verrichten, wie Klavierspielen und Freeclimbing.
Ohne näher darauf einzugehen, kann man schon hier die unglaubliche Verarmung durch Computer und Bildschirmarbeit erkennen, bei der die körperliche Geschicklichkeit auf das Drücken einer Maustaste reduziert wird. Also, es bleibt festzuhalten, die Hand ist für das Wesen der Menschen von existentieller Wesentlichkeit.
Vertiefende Einsichten hierzu liefert das Buch „Die Hand“ von Frank R. Wilson, einem amerikanischen Neurologen, der auf über 500 spannenden Seiten nachweist, dass die Entwicklung der menschlichen Hand nicht nur zeitlich vor der Entwicklung des Gehirns stattgefunden hat, sondern dass sie darüber hinaus der eigentliche Motor für die Entwicklung eben dieses Gehirns gewesen ist.
Verkürzt zusammengefasst führte die Geschicklichkeit menschlicher Hände zu einer vielfältigen Gestaltung unterschiedlicher Produkte und diese Spezialisierung verlangte nach Kommunikation, die wiederum das Wachstum des Gehirns stimulierte. Im Umkehrschluss bedeutet die Vernachlässigung des manuellen Trainings nicht nur bei Kindern sondern auch Architekten einen Verlust an Kreativität, Teilnahme und Wesentlichkeit.
Oder, wie Konrad Lorenz visionär sagte, wer nicht das Leben im täglichen Gebrauch, im Zwiegespräch mit der Natur und im Mitleid mit der Kreatur erfährt, sondern nur aus dem digitalen Bild, wird zum Seelenkrüppel.
Und manche Berichterstattung über bisher für unmöglich gedachte Gräueltaten in der menschlichen Gesellschaft scheinen ihm leider Recht zu geben.
Dr. Friedrich Pohlmann, ein Soziologe hat in einem Radioessay in der Reihe „AULA“ des SWR am 16. 4. 2001 über „Die Hand, zur menschlichen Körperintelligenz“ gesprochen und mich so stark beeindruckt, dass ich Ihnen einige wesentliche Aspekte zu unserem heutigen Thema nichtvorenthalten möchte:
„Der Mensch ist – im Gegensatz zu Tieren – in seinen Kontakten zur Objektwelt und zu seinesgleichen nicht festgelegt auf wenige, relativ starre Handlungsmuster; und er ist auch nicht angebunden an ein bestimmtes Biotop.
Er kann sich vielmehr aufgrund seiner Handlungsoffenheit jedes Biotop so zurechtrichten, dass er in ihm leben kann, ist also qua Handlungsoffenheit weltoffen.“
Laut Gehlen lebt er als Kulturwesen von den Resultaten seiner voraussehenden Tätigkeit. Im Gegensatz zu allen Tieren können Menschen die kompliziertesten Willkürbewegungen in unendlicher Mannigfaltigkeit erlernen.
Der Mensch verfügt über eine Erwerbmotorik im Gegensatz zur Erbmotorik der Tiere. Diese Besonderheit lässt sich nun am besten an der Hand als „zentrales Organ und Medium des handlungsoffenen Weltbezugs“ darstellen.
Die Hand bezieht ihre Leistungsfähigkeit aus der Oppositionsstellung des Daumens, sein Tastballen kann die Tastballen der übrigen Finger berühren und alle Finger können unabhängig von einander tätig werden ebenso wie beide Hände.
Die Steuerung der Hände nimmt insgesamt einen stark überproportionalen Anteil am Gehirn in Anspruch“.
Pohlmann geht sehr stark auf die vielfältigen Funktionen der Hand ein, die Hand als Zeigeorgan zum Beispiel für Gefühle, die offene Handfläche, die geballte Faust, das Händeringen usw.
Für unsere Betrachtung scheint mir die Wichtigste die Hand als Organ des Objektkontaktes zu sein: die Hand kann tasten, greifen, formen, schlagen und werfen.
In der kindlichen Entwicklung ist das Greifen die Voraussetzung für das Begreifen.
Die Fähigkeiten der Hand stehen dem Neugeborenen nicht unmittelbar zur Verfügung sondern müssen erst und zwar ausschließlich im praktischen Umgang mit seiner Objektwelt, im spielerischen, explorierenden und gestaltendem Handeln mit Dingen erworben werden.
Die „handgreifliche“ Praxis stellt die Basis für unser Wahrnehmungssystem und unser Wissen dar, was sich unter anderem auch am Doppelsinn des Wortes „Begreifen“ ablesen lässt.
In den ersten Lebensmonaten spielt der Sehsinn für die Entwicklung der Hand nahezu keine Rolle und erst ab dem fünften Monat entsteht ein komplexes Wissen von den Gegenständen – ein Tast-, Lutsch-, und Sehwissen.
Die Hand ist also dem Auge immer voraus, sowohl entwicklungsgeschichtlich als auch personenbezogen. Es wird also zu untersuchen sein, was dies für das menschliche Habitat in allgemeinen und die Architektur und des Weiteren für das Lernen und Lehren bedeuten könnte.
Zweitens zur Architektur:
Amber Sayah hat am Samstag, den 15. Juli 2007 ihrem Artikel „Unordentliche Häuser zum Leben und Lernen“ damit beendet, dass sie den Titel meiner Abschiedsvorlesung interpretiert als: „Hand und Auge“, die zwei wichtigsten Planungsinstrumente des Architekten.“
Eine mögliche Deutung, denn natürlich handelt es sich um zwei Organe, die sowohl zur Erfindung von Architektur als zu ihrer Prüfung herangezogen werden können.
Johannes Uhl, der begnadete Vielzeichner vertraut der Hand, die die unbewusste hässliche Skizze erzeugen kann, die das Auge erst entschlüsseln muss. Jeder klassisch erzogene Architekt weiß dieses und bedauert den Verlust des kreativen Potentials der händischen Zeichnung, die durch den allgewaltigen Siegeszug des Computers entstanden ist.
Hugo Kükelhaus hat in seinen Schriften, insbesondere in „Organismus und Technik“ auf die immer gleichzeitige und ganzheitliche Beteiligung aller Sinne und des ganzen Menschen hingewiesen, indem er schreibt: „nicht die Hand greift, sondern der ganze Mensch, nicht das Auge sieht, sondernder ganze Mensch, nicht das Ohr hört, sondern der ganze Mensch, nicht die Nase riecht, sondern der ganze Mensch, nicht die Zunge schmeckt, sondern der ganze Mensch!“
Auch der Psychologe und Philosoph Erwin Straus spricht in seinem Buch „Vom Sinn der Sinne“ schon in einer Überschrift davon: „der Mensch denkt, nicht das Gehirn.“
„Ich denke sowieso mit dem Knie“, sagte Joseph Beuys;
„In meinem kleinen Finger ist mehr Wissen als in meinem Kopf“, sagte Albert Einstein.
Marita Albrecht, „Physiotherapeutin aus Neckartenzlingen“, sagte mir letzte Woche, als sie mich von der Verspannung dieser letzten angespannten spannenden Woche befreite: „ich weiß gar nicht wie das geht aber meine Hände finden von alleine den Schmerz!“
Christian Rittelmeyer beschreibt in seinem Buch „Pädagogische Anthropologie des Leibes“ den Stand der Forschung und entwickelt so die „Biologischen Voraussetzungen der Erziehung und Bildung“, die wir direkt auf das Entwerfen, das Ersinnen, das Begreifen und Erfahren von Architektur anwenden könnten.
Augensinn, Gleichgewichtssinn und Eigenbewegungssinn lassen erst Raumerfahrungen zu, doch zurück zu unserer kurzen Betrachtung von Hand und Auge und von der Entfremdung der Architektur vom ganzen Menschen.
Wenn ein Laie eine x-beliebige Architekturzeitung aufschlägt wird er die Begeisterung der Architekten über die menschleeren und neuerdings auch unmöblierten Bauten nicht verstehen können sondern eher erschrecken über so viel Nacktheit, Purismus, Geradlinigkeit, über soviel angebliche Schönheit für das Auge und so wenig Handschmeichelqualität.
Rittelmeyer hat in mehreren Forschungsarbeiten über die Erfassung und Beurteilung von Schulbauten durch Schüler erstaunliche Merkmale für sympathische oder antipathische Akzeptanz herausgefunden, die bisher wenig Eingang in die Schulplanung gefunden haben.
Christopher Alexander hat in „Pattern Language“ ähnliche Ergebnisse über das Erleben von Architektur zusammengetragen. Alle diese Erkenntnisse finden momentan wenig Eingang in die sogenannte „gute Architektur“.
Vielleicht helfen uns andere Berufe weiter: Hand und Auge wurden von den griechischen Gynäkologen als Symbole ihrer Zunft verwendet und das gibt mir Anlass, mich selbst zu zitieren. „Peter Hübner als ungeborener Architekt“:………….In einer Rede vor Vertretern der Stadt und der Elterninitiative Grundschule Stammheim im Januar 1989
„Je mehr ich baue, je mehr ich entwerfe und je mehr ich Kontakt mit denen habe, für die ich baue, je mehr gelingt es mir, mich eher demütig in die hineinzuversetzen, für die ich baue, um dann ganz naiv und impulsiv zu fühlen und nicht zu denken. Und wenn ich mich also zurückversetze in den Zustand des „Noch-nicht-Geborenseins“ und aus dem warmen, blassrosa Licht, das ich als Ungeborenes bereits schon kenne, aus diesem Dämmerzustand, aus dieser Wärme, aus meinem Lebensraum hinausgestoßen werden in die kalte, feindlich, viereckige, weißgekachelte, halogenbestrahlte Entbindungsanstalt, dann können Sie sich schon vorstellen, wie ich Entbindungsräume gestalten würde, als noch nicht geborener Architekt.
Wenn ich jetzt also eine Schule für siebenjährige Kinder bauen will, dann sollte ich schon wissen, was ist ein siebenjähriges Kind. Irgendwo muss es sich an den Kindern orientieren. Und deswegen bin ich um den Pavillon in Büsnau gegangen und habe mich auf 1,20 m runtergelassen, da ich ja Kind bin. Und wenn ich dann noch höre, auch hier in Stammheim soll der Bau auf einem 50 cm Sockel gestellt werden, dann ist in Büsnau wie in Stammheim nichts mit rausgucken und reingucken: Einfach das triste Elend. Die Fortsetzung des Kreißsaals.
Das Auge dominiert die Entwürfe der modernen Architektur, alles ist auf den Augensinn gerichtet, der Computer leistet da sicher auch noch Vorschub und das Sinnliche das Erfass- und Begreifbare verschwindet mehr und mehr.
Wer jetzt glaubt, dass es einen einfachen Wechsel von einer einfältigen Schuhschachtelarchitektur hin zu einem organischen Bauen gäbe wird enttäuscht sein, denn die freier geformten Gebäude sind häufig noch platter als die geraden, denen man immerhin eine tektonische und konstruktive Richtigkeit bescheinigen kann.
So zum Beispiel beim Science Center „phaeno“ von Zaha Hadid in Wolfsburg. Vom Blop zum Flop kann man da nur sagen. Außer einer hybriden Großform mehr schlecht als recht in Beton gegossen sind keinerlei Dinge beachtenswert, keine adäquaten Lösungen für Eingänge, Fenster, Treppen, Nebenräume usw. Weder Gestaltung im Ganzen noch im Detail, alles viel zu groß, schon jetzt verstaubt nahezu menschenleer und unmenschlich, Architektur für die schnelle Vermarktung durch die Medien, kaum veröffentlicht, schon obsolet.
Meine Frau und ich mussten noch einmal zurück zur Stadtbibliothek von Alvar Aalto und mit unseren Händen Trost suchen an Türklinken, Handläufen, Einbauten und Möbeln.
Menschengemäße organische Architektur muss sich sehr nahe am Menschen orientieren und kann dabei durchaus rechtwinklig sein.
Der Mensch erfasst, begreift (immer wieder diese doppelsinnigen Wörter) seine nahe liegende Welt mit all seinen Sinnesorganen.
NUR EINE UMWELT, DIE ALLE SINNE ANREGT, WACHHÄLT UND SCHMEICHELT, IST MENSCHENWÜRDIG.
Schon das Kleinkind kennt bereits das Wesen vieler Subjekte und Objekte, es kann diese am Geschmack, am Geruch, am Klang, an der Struktur und nicht nur an seinem Aussehen identifizieren und sich an positive oder negative Erfahrungen erinnern.
Es hat unterscheiden gelernt in warm und kalt, laut und leise, hart und weich, süß und sauer, glatt und rau, spitz und stumpf und unendlich so weiter, es hat gelernt Dinge zu unterscheiden in solche, die ihm wohl tun und andere die ihm weh tun, sozusagen in gute und in böse Sachen.
Wenn zum Beispiel ein Kind (ein Mensch) ein Weinglas sieht, weiß es nicht nur um seine Durchsichtigkeit und Zerbrechlichkeit, sondern auch seine Kühle, seinen Geschmack, seinen Klang und seine Geruchlosigkeit. Das heißt, ein Sinn zum Beispiel der Sehsinn identifiziert sozusagen synchron auch die Empfindungen der anderen Sinne und gibt somit ein ganzheitliches Bild eines Gegenstandes oder einer Blüte, eines Körperteiles.
Mich fasziniert die Parallelität zur Architekturwahrnehmung. Auch Häuser und Städte werden mit allen unseren mehr als fünf Sinnen erfasst. Um sinnenfreudige oder besser die Sinne erfreuende Räume zu gestalten, muss man sie ersinnen, das heißt mit all seinen Sinnen erfinden, sie nicht nur mit dem Auge und für das Auge gestalten.
Es hilft wenig, dass in einem Architekturjournal die geleckten, menschen- und neuerdings auch möbellosen Häuser mit gerade gestellten Fotos die Zustimmung der Insider, der Hüter der modernen Architektur und der Fachkollegen erheischen und im schlechtesten Fall „Schule“ machen, in dem sie den Trend setten und einer weiteren Generation von Architekturstudenten als Vorbilder dienen, wenn sie an den eigentlichen Wünschen und Bedürfnissen der Menschen vorbeigehen.
Nachdem vorher Gesagten wird klar, dass Menschen die Fähigkeit haben, sich spontan von Objekten, Materialien, Strukturen usw. positiv oder negativ angesprochen, angerührt oder angenommen zu fühlen. Man muss als Schülerin nicht eine nackte Betonwand berühren, um zu erkennen, dass man sie nicht mag, da ihre Erfahrung sagt: kalt, rau, staubig und somit kein Handschmeichler, kein heimeliger Ort und nichts wie weg von hier.
Oder man muss als Schüler den viel zu langen geraden Flur nicht durchschreiten, um zu wissen: langweilig, übersichtlich, kein Abenteuer aber auch kein Entrinnen oder lieber nicht betreten.
Und man muss als Lehrkraft nicht in einer herkömmlichen Klassenkiste unterrichten, um zu wissen, es ist wie auf dem Kasernenhof, überhaupt nicht wie daheim, keine Unterrichtshilfe und schon gar kein Lebensraum.
Die Architekturpsychologin Rotraut Walden erforscht und beschreibt diese Phänomene. (Lit 6)
Wir behaupten, dass der Mensch hausbedürftig und zugleich hausbaufähig ist. Zu seinen Urbedürfnisssen und Urfähigkeiten gehört das Sichbehausen, wobei die Betonung auf „Sich“ liegt. Dieses sagt aus, dass die eigene Beteiligung, die Partizipation am Bauprozess von eminenter Wichtigkeit für die spätere Akzeptanz des Hauses und Identifikation mit seinen vier Wänden ist.
Die Ausstellung im KI zeigt, wie wir dies beim Bau vieler Jugendhäuser und Schulen erfahren haben, bei denen die späteren Nutzer mitgeplant und mitgebaut haben.
Zuerst erfuhren wir, dass Bauen bei Leibe kein nur technischer, sondern ein sozialer Prozess ist. Jahrtausende lang war Bauen der Prozess einer sozialen Gemeinschaft, war Nachbarschaftshilfe und Initiationsritual, war eingebunden in eine Gesellschaft und ihre tradierten Praktiken.
Beim Bau von acht Jugendhäusern, die in weitgehender Selbsthilfe entstanden sind führte dies, wie Peter Blundell Jones in seinem Buch über unsere Arbeiten „Building as a social Process“ / „Bauen als ein sozialer Prozess“ eindringlich und kompetent beschreibt, dazu, dass diese Häuser geliebt und pfleglich behandelt werden und weitgehend frei von Vandalismusspuren sind. ( Lit 3)
Zuerst glaubten wir, den Grund hierfür in der direkten Beteiligung der Jugendlichen beim Bauen zu finden und in der Beschützerrolle, die diese Hausbauer für das eigene Gebäude spielten. Diese Theorie wurde von Jahr zu Jahr unglaubwürdiger, nachdem die Häuser immer älter wurden, immer noch unversehrt geblieben waren und nachdem die Erbauer längst in alle Winde verstreut waren, die jugendlichen Benutzer aber immer noch behaupten, sie hätten die Häuser selbst gebaut, obwohl sie damals noch gar nicht geboren waren.
Es scheint also so, dass nicht die Erbauer, ihr Haus schützen, sondern dass es das Haus selbst ist, welches durch seine besondere Ausstrahlung von der einmaligen Art seines Gemachtseins, seiner Entstehungsgeschichte und der vielen Mühe, die in es investiert wurde, kündet. Es scheint gerade so, als ob das Haus von der Liebe und Hingabe seiner Herstellung berichten würde, es ist im besten Sinne „architecture parlente“ sprechende Architektur entstanden.
Schon jetzt wird offenbar, dass geliebte Häuser eine eigene Identität und Individualität besitzen, die sie aus der anonymen Uniformiertheit herausheben. Dieses wird vollkommen verständlich, wenn wir es mit der Bekleidung vergleichen, hier wie dort bringt erst das Individuelle die wirkliche Identifikation und Zuneigung. Kleid und Haus haben neben den rein funktionalen Bedingungen auch emotionalen und sozialen Ansprüchen zu genügen. Um nicht nur Schutzhütte, sondern auch Lebensraum für den Einzelnen und die Gruppe zu bilden müssen Häusern komplexe vielfältige Aufgaben erfüllen, oder , wie der Humanethologe Herrmann Schievenhöfel herausgefunden hat, darf ein Haus kein rein technisch- kognitives Konstrukt sein, sondern muss daneben vielfältigen emotionalen und sozialen Ansprüchen genügen.
Wir haben dieses später in überraschender Weise immer wieder erfahren und heute wissen wir, dass die Beteiligung an der Planung, das Ernstnehmen der Wünsche und das Ausdiskutieren der unterschiedlichen Lösungen ein meistens mühsamer und zeitraubender aber immer fruchtbarer und erfolgreicher Prozess ist, der wichtiger als die Selbsthilfe am Bau scheint und zu dem gleichen Gefühl einer selbst bestimmten, maßgeschneiderten Entwurfslösung führt, die eine hohe Identifikation mit dem Haus mit sich bringt.
Es scheint gerade so, als ob das besondere Ambiente, die Einzigartigkeit des Gebäudes oder fast so etwas wie die Aura des Hauses durch die persönliche Beschäftigung und Hingabe vieler Personen, möglichst der späteren Nutzer in dem eigentlich toten Objekt eingefangen wurde, so dass es davon kündet:
Ich bin ein echtes Individuum, ein lebendiger Organismus und dieses ganz speziell für Dich, der Du mich erkennst. Ich bin wesentliches Teil Deiner ganzheitlichen Persönlichkeit!“
Als wir dieses zum ersten Mal erfuhren, hielten wir es für esoterisch, bis wir von Humanethologen, Psychologen, Soziologen und Neurologen mehr über den Menschen, seine genetische Entwicklung, seine psychische und soziale Bedürftigkeit und seine Interaktion und Abhängigkeit von der toten und lebendigen Natur erfuhren.
Drittens: Welche Folgerungen ziehen wir nun aus dem bisher über Hand und Auge gesagten für das Lernen und Lehren?
Auch hier ist die Hand dem Auge voraus folgt man dem Neurobiologen Gerald Hüter und seinen Forschungen dann lernen wir aus angeborener Neugierde und sind tatendürstende Wesen. Diese Fähigkeiten gilt es zu nutzen, zu stützen und auszubauen. Leider führt das bundesdeutsche Schulsystem in breiter Front zur Ausgrenzung dieser Anlagen, zu passivem Verhalten und wenig Eigeninitiative. Wolfgang Harder der langjährige Leiter der Odenwaldschule sagte kürzlich in Bad Boll: „Schule schafft organisiertes Mitläufertum!“.
Ausnahmen bestätigen die Regel. Da dieses in anderen Ländern nicht so ist, könnte es bald zu einem fatalen Wettbewerbsnachteil im globalen Wettstreit führen.
Hartmut von Hentig dessen Buch „Schule neu denken“ nach wie vor zu Musslektüre auch für jeden Hochschullehrer gehört, bestätigt als herausragende Lehrform die Projektarbeit, in der sich Lehrende und Lernende möglichst ohne die Lösung im Vornherein zu wissen über einem, wenn es geht, von den Schülern oder Studenten gestellten Problem treffen.
Auf einer Tagung für Schulleiter in Bad Boll, an der ich das Glück hatte teilzunehmen, sagte von Hentig: „Lehrer sollten nicht nur Belehrer sein, sondern mit ihren Schülern das Risiko der Unsicherheit tragen!“ das trifft auch für unsere Fakultät zu, in der die besten Lehr- und Lernsituationen aus solchen neuen unbekannten Suchfeldern erwachsen. Dabei sind gerade solche Projekte besonders nachhaltig erfolgreich, die mit den Händen erarbeitet und begriffen werden.
Peter Sulzer und ich verstanden nicht nur das Bauhäusle, das Studentendorf in Selbsthilfe in Stuttgart Vaihingen, sondern viele andere zum Teil auch weniger spektakuläre als „Lernen durch Selberbauen, als einen Beitrag zur praxisorientierten Architektenausbildung“, wie das gleichnamige Buch im Verlag C.F.Müller heißt.
Gerade auch in der Architektenausbildung gibt es viele Projekte, die über den reinen Lehreffekt auch noch einen gesellschaftlichen, ökologischen oder ökonomischen Nutzen haben. Hartmut von Hentig berichtet in seinem neuen Buch „Bewährung, Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein“ über den Spaß, die Hingabe und die nachhaltige Veränderung von Menschen, wenn sie gemeinsam ein solches Projekt stemmen.
John Dewey und viele andere haben bereits vor hundert Jahren statt einer Lernschule eine Arbeitsschule, eine Produktionsschule, eine Projektschule, eine Lebensschule gegenübergestellt. Wenn ich heute eine Architekturschule gründen sollte, würde ich so verfahren. Die Aufgaben wurde ich weniger im schönen Gestalten suchen sondern in den Problemen der Welt von den Studierenden suchen lassen: Bauen im Einklang mit der Natur unter humanen, ökologischen, ökonomischen Gesichtspunkten.
Bauen mit der Sonne zum Heizen, Kühlen, Lüften wäre ein zentrales Thema.
Das Klo der Zukunft ist von brisanter Aktualität, besonders nachdem mir Andreas Kleinefenn die Materialien zu Norbert Elias` Zivilisationstheorie zugeschickt hat mit dem Kapitel von Peter Reinhart Gleichmann „Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen“ in dem die Entstehung der Entfremdung des Menschen von den Vorgängen der Körperentleerung bis zur weitgehenden Tabuisierung innerhalb der letzen gut hundert Jahre aufgezeigt wird. Es gilt die weitgehend unter Protest eingeführte Schwemmkanalisation, die meist mit Trinkwasser betrieben wird, in Frage zu stellen und den ökologischen und auch ökonomischen Nutzwert unserer Exkremente für Düngung und Heizung zu erkennen.
Für Gesellschaftliche Randgruppen, wie Obdachlose, Kinder, Jugendliche, Migranten, Alte usw. ließen sich viele praxisorientierte Beispiel für Planung, Partizipation und Selbsthilfe finden, wie Peter Sulzer vor zwanzig Jahren gezeigt hat.
Im Erfinden von neuen Strukturen mit anderen zum Beispiel schwachen Materialien wie Papier, Pappe, Stroh liegen Spiel, Spaß, Erfolg und Misserfolg eng beieinander. In diesem Zusammenhang möchte ich meine Zeit als Student am Institut für leichte Flächentragwerke bei Frei Otto nicht missen. Wir waren vermeintlich oder tatsächlich mit den Problemen der Welt beschäftigt.
Am Beispiel des Entwerfens mit Papierwerkstoffen möchte ich erläutern, wie die Hand gleichsam spielerisch die Materialeigenschaften erspürt und ihre Möglichkeiten ausloten kann:
Rückblickend habe ich für meine Studienzeit vielen Kommilitonen und Lehrern zu danken, sie haben mir nachhaltig das Gefühl gegeben, gebraucht zu werden.
Das ist bis heute so geblieben und immer wenn meine beiden Schutzengel, einer vorne einer hinten mir in lebensgefährlichen Situationen beigestanden sind, habe ich anschließend gesagt: „die Welt hat noch was mit mir vor!“
Seit 28 Jahren Lehrer an dieser Fakultät zu sein, hat mir durchweg angenehme Kollegen beschert und tausende von Studierenden, denen allen ich in dieser oder jener Form zu danken habe. Ich war fast immer begeistert von dem, was ich gerade tat, habe mich immer als Lernender empfunden, habe mir genügend kindliche Naivität bewahrt, sodass ich ungern diese meine Universität, meine Fakultät und mein KI verlasse.
Literatur
Lit 1) Rainer Winkel
Theorie und Praxis der Schule
Oder: Schulreform konkret im Haus des Lebens und Lernens
Schneider Verlag, Hohengehren 1997
ISBN 3-87116-852-1
Lit 2) Christopher Alexander
Eine Mustersprache ( a Pattern Language)
ISBN 3 -85409-179-6
Lit 3) Peter Blundell Jones,
Peter Hübner, Building as a social process,
Bauen als ein sozialer Prozess,
Edition Axel Menges 2007
ISBN 3-932556-02-9
Lit 4) Peter Hübner
Kinder bauen ihre Schule
auge-06Children make their school
Evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen
Edition Axel Menges Stuttgart/ London 2005
ISBN 3-932565-52-5
Lit.5) Frank R. Wilson
Die Hand – Geniestreich der Evolution
Ihr Einfluss auf Gehirn, Sprache und Kultur des Menschen
Klett – Cotta, Stuttgart 2000
Lit 6) Rotraut Walden
Schulen der Zukunft
Gestaltungsvorschläge der Architekturpsychologie
Asanger Verlag, Heidelberg, Krönig 2002
ISBN 3-89334-392-X
Lit 7) Hugo Kükelhaus
Von der Tierfabrik zur Lernanstalt
Gaia Verlag Köln
Lit 8) www.plus-bauplanung.de
Lit 9) Peter Sulzer, Peter Hübner u.a.
Lernen durch Selberbauen
Ein Beitrag zur praxisorientierten Architektenausbildung
Verlag C.F.Müller, Karlsruhe 1983
Lit 10) Hartmut von Hentig
Bewährung
Von der nützliche Erfahrung, nützlich zu sein .
Carl Hanser Verlag, München Wien 2006
Lit 11) Peter Gleichmann u.a.
Materialien zu Norbert Elias Zivilisationstheorie
Suhrkamp Verlag Frankfurt/ Main 1977
Fotos: Wolfram Janzer
plus bauplanung gmbh
goethestraße 44
72654 neckartenzlingen
info@plusbauplanung.de
07127 92070